Hoffnungsdepesche 01/19

Lieber Mitmensch,

bis diesen Freitag, genau drei Minuten vor Sechs: So lang hielt sich bei mir das Vorurteil, dass Menschen in Ballonseide per se nicht zum Ratgeber taugen. Noch um 17.54 Uhr war ich im Paketshop-Lotto-Späti meines Vertrauens und Kiezes Teil der Schlange, als die Bimmeltür mit einer Vehemenz aufgerissen wurde, die die Lebenszeit der Bimmeln hörbar verkürzte. Auftritt er, der Modeschmock, und er wird in weniger als zwei Momenten (gespoilert ist ja schon) mein 30 Jahre altes Ressentiment in Krümel bröseln.

Nun halt mal kurz, wirst du nun fragen, wie kommt man überhaupt auf diesen Quatsch? Der Rückschluss von Wams auf Geist? Schlimmes Tuch muss doch nicht von brackigem Gemüte zeugen, kann galantes Spiel mit Konvention und ihrem Bruch sein, Shabby Chic, heißer Shice. Ich aber reifte in schlichteren Zeiten vonz ohne Ironie der Schäbigkeit und hatte es so verinnerlicht:

Ballonseide diente uns zuvorderst, heiße Luft zu ummanteln, um ihren Auftrieb zu nutzen und Weidenkörbe in Wolkenhöhe zu heben. In die Körbe nun packten wir Menschen, die gern mal der Mehlschwalbe im Flug auf den Hinterkopf schauen wollten oder auf Erden eh nur im Wege standen. Bald aber passierte modisch Ungeheuerliches: Pärchen, die sich an Bord des himmelsfahrenden Korbs aneinanderklammern und lieben gelernt hatten, suchten nach uniformen Zeichen ihrer Verpartnerung. Sie vernähten die synthetische Schwesterfaser der Ballonseide, die trilobale Polyamidfilamente, zum schimmernden Partner-Jogger mit Baumwollinlay, von manchen Trägerinnen- und Trägerkörpern in ähnliche Rundungen gedehnt wie beim ursprünglich ballonesken Einsatz. Ach, wie leicht fiel uns anderen der Spott, uns leichtspöttelnden, individuell Naturfaserigen. Fröhlich ignorierten wir Beiträge solcherart Gewandeter; sollten sie doch innerhalb ihrer Partnerschaft beitragen! So fräste es sich mir in die modische Sozialisation.

Solcherart gedanklich verengt stehe ich nun also in der Schlange, mustere den Seidenmann, nehme den geschundenen Zustand seines natürlich gealterten, nicht vintagegetunten Trainingsanzugs zur Kenntnis – it’s more than a Peeling, würde hier ein wortspielfühliger Brite anmerken, wehmütig konstatierend, dass es wohl sein letztes Bonmot in trauter EU-Runde sein wird – sehe, dass er unter dem Jogger einen ebenfalls synthetischen Rolli trägt, dessen leichter Perlmuttschimmer an manchen Stellen von Eigelbflecken überlagert wird, derweil er uns perlenförmig aufgereihte Wartende ignoriert und lauthals durch den Raum schnarrt: „Wie hoch ist Hauptgewinn?“ Verstehend antwortet die Lotto-Matrone: „10 Millionen.“ Nun endlich nimmt er uns auch wahr, fleischgewordene Wartezeit. „Lohnt doch gar nicht!“ karriolt er kehrtwendend zurück, Tür wieder auf, zwei Schritt raus in die Mildwinterkälte, und die Bimmeln bammeln Abschiedsschmerz.

Seine Worte hingegen klingelten mir weiter im Gemütsstübchen: Manches Angebot ist einfach nur für den Überschlag gut, ob man nicht schon genug sein Eigen nennt. Und mancher Ort dient einfach nur der Erkenntnis, dass es uns an anderen Orten besser geht, ja, sogar gut, ja, scheiße eins, wir sind da sogar glücklich und merken es im Alltag, der ollen Stumpfmaschine, nurmehr in der Abkehr und im Vergleich.

Ich bin nun grad an einem solchen Ort. Seit Monaten, bis nächsten Freitag noch, nicht ausgesucht hab ich ihn mir. Als Maßnahme. Ich nehm den Rat vom Ballonmann und ziehe den Vergleich: Da liebe ich das, was ich sonst tu, mit jeder Synthetikfaser meines Herzens. Es lohnt sich, komm bitte schauen, ich brauch Dich jetzt.

Nur wenn ich lache. Mein komisches Solo. Sa, 16.02.19, 19.30 Uhr, Theater O-TonArt, Kulmer Str. 20A, 10783 Berlin. Etwas Neues zur Kartenbestellung: sie erfolgt nun über meine Mailadresse (auch auf der Website vom O-Ton).

Dein Zeha Schmidtke, in Bewegung

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